Bis vor kurzem, genauer gesagt, bis vor 24 Tagen, hatte ich die lebenserhaltende, hochangesehene und weitverbreitete Angewohnheit, jede Sekunde einer Zugfahrt mit Schlafen zu verbringen. Kaum hatte ich mir ein passendes Abteil ausgesucht, schlossen sich scheinbar wie durch Zauberhand meine Augen und ich wette, ich wäre jedes Mal tief eingeschlafen, wenn mich die monotone Frauenstimme nicht schon nach knapp 10 Minuten durch die Lautsprecheranlage mit der netten Information "nächster Halt Gossau" unsanft aus meinem Sekundenschlaf gerüttelt hätte.
Seit 24 Tagen jedoch wollen sich meine Augen einfach nicht mehr schliessen.
Vielleicht weil ich am Dienstagabend mein liebes Bett nicht mehr bis in die frühen Morgenstunden alleine auf mich warten lasse,
oder weil ich am Freitag- und Samstagabend erst mit dem Erwachen der Sonne zu Bett gehe,
vielleicht auch einfach, weil die Sonne zu hell scheint.
Obwohl ich diese erholende Schlafzeit im Zug als das wunderbarste und grösste Geschenk des Tages angesehen habe - denn täglich Zugfahren ist scheinbar sowieso unnötig und absolut nur schlafend erträglich - muss ich jetzt merken, dass ich all diese Monate das lustigste und unterhaltsamste an der ganzen Zugfahrt verpasste!
Wenn sich die Augen nämlich nicht wie durch ein biologisches Wunder jedes Mal von selbst schliessen, merkt man nämlich nicht erst am Schluss, wenn man beim Aussteigen über die ausgestreckten Beine des Sitznachbars stolpert, dass es überhaupt noch andere Menschen in diesem Zug gibt.
Ja, andere Menschen,
Menschen,
die nicht nur schlafen sondern leben.
Glauben Sie mir,
wenn Sie für einmal die Augen nicht schliessen und in ihre Traumwelt versinken, sehen Sie einfach ALLES!
Es ist wie Kinofilm schauen oder Abenteuerbücher lesen; manchmal denken Sie, Sie hätten sich in einem Science-Fiction Roman verirrt (wenn nämlich die ältere Dame neben ihnen im Ernst pink-gefärbte Haare hat und eine gelbe Neontasche bei sich trägt) nur um im nächsten Augenblick überzeugt zu sein, in einer amerikanischen Soap zu stecken, da der Gesprächsstoff der zwei knallgeschminckten Blondinen vis-à-vis ein beängstigend tiefes Niveau erreicht hat und ständig durch dämliches Gekicher untermalt wird.
Manchmal befinden Sie sich auch plötzlich in einem spannenden Krimi, in dem die haarsträubenden Ausreden des jungen Mannes mit schickem, knallengem Anzug im Nachbar-Abteil, warum er kein gültiges Billet vorweisen kann, immer fantasievoller und absurder werden.
Eigentlich ist Zugfahren wie träumen, nur dass Sie sich all diese Dinge nicht selbst ausdenken, sondern sie echt und wirklich sehen!
Wunderbar.
Wie viel ich doch verpasst habe, in dem ich immer dachte, dass meine ausgemalten Träume hinter geschlossenen Augenlidern spannender und erholsamer wären als die echte Realität.
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Manche Leute brauchen eben 24 Tage ohne Ausgang,
bis sie endlich die Augen öffnen.
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